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Uni zwischen Ebbe und Flut

Ein Erfahrungsbericht über die Zeit nach dem Abitur

Uni zwischen Ebbe und Flut
 
Abschluss am Treptow-Kolleg
Es ist der Sommer 2023: Im Treptow-Kolleg feiert unser Jahrgang die Abitur-Zeugnisausgabe. Strahlende und zufriedene Gesichter nehmen den erfolgreichen Abschluss entgegen und sind gespannt auf einen neuen Lebensabschnitt. Viele von uns brachten bereits vor dem Abitur eigene Erfahrungen mit – Unsicherheiten, Jobs, Reisen, frühere Schulwege oder Ausbildungen. All diese Geschichten trugen wir mit ins Kolleg, verbrachten eine gemeinsame Zeit und waren nun gespannt darauf, wie es nach dem Abitur für jeden von uns weitergehen würde. Trotz der Gemeinsamkeit, im zweiten Bildungsweg das Abitur zu meistern, war die Zeit für manche eine Neuausrichtung, für andere war es eine Interessenssuche. Wir hatten unterschiedliche Motivationen für das Abitur als Erwachsene und doch hatten wir eins gemeinsam: Die Suche nach einem selbstbestimmten und erfüllten Leben. So bekam ich mein Zeugnis am letzten Schultag in der Aula überreicht und wie viele andere von uns hatte ich schon eine Idee für die nächste Etappe: Ich wollte nach Spanien, um die Sprache und die Kultur kennenzulernen. Und genau das tat ich.
 
Spanien-Aufenthalt
Voller Vorfreude machte ich mich auf den Weg nach Barcelona, suchte mir eine WG und eine Sprachschule und lernte Stück für Stück, in einer anderen Welt zurechtzukommen. Zu Beginn lief das auch wie am Schnürchen. Mit anderen Sprachschülern traf ich mich nach dem Unterricht und wir erkundeten gemeinsam die Metropole und das Umland. Zu anderer Zeit übten wir spanisch und erlebten kurzweilige Momente an der Küste sowie in den verwinkelten Gassen der Stadt. Die Unordnung in der WG schockte mich zunächst, aber ich gewöhnte mich daran und richtete mich so ein, dass ich mich wohlfühlen konnte. So vergingen die Wochen und Monate und meinem Ziel, Spanisch zu können, rückte ich immer näher. 
 
Nach einigen Monaten fiel es mir jedoch immer schwerer, meine Kraft bei mir zu halten. Ich wurde häufiger krank, war viel schneller überreizt und nicht lange bei guter Laune zu halten. Einerseits wuchs durch das Sprachenlernen meine Verbindung zur Kultur, andererseits fühlte ich mich zunehmend überfordert und bekam Heimweh. Die täglich auf mich einströmenden Eindrücke überfluteten mich unbewusst – Kaum war ein Eindruck verarbeitet, strömte der nächste auf mich zu. Ich stand bis zum Hals im Wasser bei Begegnungen mit immer wieder neuen Leuten und mein sowieso schon sensibles System wurde reizbar und urteilend. Die Folge: sozialer Rückzug. Ich wich aus dem Trubel wie das Meer, das sich zurückzieht. Der Geruch der Stadt, die Enge der Gassen und die fehlende Natur nervten mich. Doch mein Vorhaben wollte ich zu Ende bringen. Ich wollte das begonnene Sprachniveau abschließen, die Prüfung bestehen und erfolgreich nach Berlin zurückkehren. Also hielt ich durch, bis ich jeden Morgen überreizt in die überfüllte Metro stieg, mich widerwillig durch rauchende Menschenmassen in Richtung Sprachschule begab und nach dem Unterricht so schnell wie möglich nach Hause wollte. Genervt zwang ich mich wieder in die Metro und lief durch übelriechende Gassen nach Hause. Ich wollte das durchstehen. Ich wollte erst wieder nach Berlin reisen, wenn ich damit kein Problem mehr hatte und mit mir selbst im Reinen war. 
 
Aber zu welchem Preis? Wertend und unzufrieden quasi dem Alltag den Sinn absprechen? Grummelig und erschöpft? Kreativlos einen Tag nach dem anderen abwarten und auf eine bessere Zukunft hoffen? War es das Wert? In der Situation war mir die selbstgestellte Herausforderung wichtiger - ein Jahr in Spanien zu leben. Ich zog meinen Plan durch - und das war auch okay. Es war genau die Entscheidung, die mir in diesem Moment richtig erschien. Mit Hochs und Tiefs schaffte ich es – mal gelang es, die Unzufriedenheit zu überwinden und mich auf mein Ziel zu konzentrieren, und mal gelang es eben nicht. Dann war es halt so. 
 
Rückkehr nach Deutschland 
Als ich wieder nach Deutschland zog, suchte ich mir einen Ausgleich und verbrachte einen gesamten Sommer auf dem Land in Thüringen. Ich arbeitete im Obst- und Gemüsegarten der Daya Mullins Stiftung und ließ der Kreativität freien Lauf. Von morgens bis abends verbrachte ich die Zeit in der Natur und baute Gemüse für die eigene Küche an. Das war wundervoll und ich werde diese Zeit voller Tatkraft und Gestaltung immer in guter Erinnerung behalten. Nach den Monaten in der stickigen Großstadt fühlte ich mich leer, reizüberflutet und innerlich ausgelaugt, während ich im Grünen zwischen Schmetterlingen und Wildbienen wieder Kraft tanken und mehr bei mir selbst ankommen konnte. Trotz der Schönheit des Gartens hatte ich einen bereits lange währenden Wunsch: Studieren. Ich wollte wissen und erfahren, wie wohl das Leben als Student ist. Wie fühlt es sich an, Student zu sein? Wie sind die Lehre und das Lernen an der Universität?
 
Noch während der Arbeit in der Stiftung bewarb ich mich an der Freien Universität Berlin. Mir war klar, dass ich zurück in die Hauptstadt und zurück in meine ehemalige Wohnung wollte, die ich bis dahin untervermietet hatte. Von der FU war ich begeistert, da sie sowohl im ruhigen und grünen Süden der Stadt liegt als auch gute Bewertungen im Ranking aufwies. Das folgende Bewerbungsverfahren benötigte etwas Geduld, bis dann einige Zeit später die Zulassung eintraf. Juhu! Ich hatte es geschafft und war neugierig auf ein weiteres Kapitel in Berlin - diesmal in einem ganz neuen Kontext. 
 
Studium 
Mein Lehramtsstudium in Spanisch und Biologie begann mit einer typischen Einführungswoche – Orientierung, Kennenlernen, erste Unsicherheiten. Ich gebe zu, über die Art und Weise, wie diese Woche organisiert und durchgeführt wird, könnten sich die Geister streiten. Die Veranstaltungen für die Lehramtsstudenten fand ich zum Beispiel großartig, um sich untereinander kennenzulernen; in Biologie eher gewöhnungsbedürftig. Das lag aber nicht nur am Alkoholkonsum, der die Stimmung heben sollte, sondern auch daran, dass alles etwas chaotisch und studentisch-selbstorganisiert erschien. Ich vermute, dass die erste Woche je nach Fachbereich anders gehandhabt wird und je nachdem, wo und was man studiert, verschiedene Erlebnisse zustande kommen. Häufig hörte ich: „Ohne Vernetzung geht hier gar nichts.“ Erst klang das bedrohlich, doch in der Praxis fand ich schnell Anschluss – ganz ohne Zwang. Nach dem eher isolierten Kapitel in Barcelona war die Offenheit an der Uni eine herzerwärmende Erscheinung und es etablierte sich beispielsweise die Kultur, gemeinsam lustige Momente in der Mensa zu verbringen oder nachmittags Dinge zu unternehmen. Auch wenn ich kein Freund des Vernetzungsdrucks bin, habe ich doch von den ersten Tagen an der Uni profitiert und Freundschaften knüpfen können. Wer also noch vor dem Erst- oder Folgestudium steht: Aus meiner Sicht lohnt es sich, die Kennlernangebote anzunehmen und auszuprobieren. 
 
So ging das Studium los, die Vorlesungen begannen und das Wissen floss ab dem ersten Tag wie ein Wasserfall über uns. Der Unterschied zwischen Biologie als Naturwissenschaft und Spanisch als Geisteswissenschaft war wie das Verhältnis von Ebbe und Flut. Während in Biologie das Semester in mehrere separate Module unterteilt war, die wie Fluten auf mich zukamen, bot Spanisch eine Abfolge von Ringvorlesungen und Sprachkursen, deren Inhalte oft unverbunden wirkten – und mein Interesse an der Sprache allmählich abebben ließen. Und während die Naturwissenschaft mich unter einer Flutwelle aus Fachwissen ertrinken ließ und im Besonderen auf das Verstehen und Auswendiglernen setzte, diskutierte die Geisteswissenschaft die Bedeutung von Räumen in der Literatur und den Unterschied zwischen Fiktionalität und Fiktivität. 
 
War es das, was ich wollte? Hatte ich mir die Uni so vorgestellt? Auf der einen Seite hatte ich mir kaum etwas vorgestellt und wollte einfach nur die Erfahrung machen, wie es als Student ist. Ziel erreicht! Auf der anderen Seite hatte ich gewisse Wünsche und Ansprüche an den weiteren Bildungsweg. Nun fehlten mir vor allem in Spanisch die realen Räume, wenn ich Dozenten über ihre Forschungsergebnisse reden hörte, anstatt unsere Sprachkompetenz zu vertiefen.  War das vielleicht die Herausforderung, die ich annehmen sollte? Zu viele und vor allem zu hohe Erwartungen reduzieren? Ist es nicht so, dass wir manchmal durch Untiefen, Stillstand, Zweifel und Frust durchmüssen, bevor wir spüren, was uns wirklich trägt? 
 
Wendepunkt 
Im zweiten Semester wurde mir klar: ein Wechsel der Gezeiten bahnte sich an. Sollte ich weitermachen – oder loslassen? Bis jetzt hatte ich immer alles bis zum Ende gemacht: die Ausbildung, das Abitur, der Aufenthalt in Spanien... der Aufenthalt in Spanien - genau daran musste ich denken. Ich hatte ihn durchgezogen, doch gut ging es mir damit nicht. Diese Erfahrung half mir bei einer Neuausrichtung und erleichterte es mir, eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung, das Studium erfolgreich abzubrechen und noch einmal neu zu schauen – die Flut weichen lassen, um die Schätze auf dem Meeresgrund zu finden. Ich merkte, dass mich ein Weitermachen nur weiter in die Unzufriedenheit geführt hätte. Und wer hört gerne jemanden zu, der andauernd über seine Mitmenschen und Umstände jammert? Ich konnte mich irgendwann schon selbst nicht mehr hören! Zeit, etwas zu ändern!  
 
Mit den Spanischkursen hörte ich schon mitten im Semester auf und in Biologie und Pädagogik brauchte die Entscheidung etwas mehr Zeit. So nutzte ich das verbleibende Semester, um alles zu beenden, was ich angefangen hatte. Ich schrieb die letzte Biologie-Klausur und schloss das Pädagogik-Seminar ab. Zu keiner Sekunde bereute ich die Entscheidung, abzubrechen. Denn was mir das Spanischstudium letztlich gebracht hat, war nicht die Grammatik, nicht die Literaturtheorie, nicht mal ein Abschluss. Sondern: die Liebe. Die Liebe zu einem Menschen, mit dem ich mir heute das Leben teile. Dafür hat sich alles gelohnt.
 
Mir zeigt diese Erfahrung: Manchmal sind Lebensabschnitte unangenehm, herausfordernd und qualvoll, doch keineswegs umsonst. Mal angenommen, ich wäre nicht nach Barcelona gezogen, so hätte ich nie Spanisch studiert und nie meinen Freund kennengelernt. Insofern ist alles gut, alles kann und möchte seinen Platz im Puzzle des Lebens finden und alles wird seinen Platz finden - vorausgesetzt wir sind da, wo wir sind, oder? 
 
Die Suche nach Freude
Das Studium abzubrechen und sich neu auszurichten, wenn man merkt, dass der aktuelle Weg keine Freude bereitet, kann ein mutiger Schritt sein. Wie häufig hören wir Geschichten von anderen, dass Lebenszeit vergeudet, das BAföG gekürzt und im schlimmsten Falle der Lebenslauf ruiniert werde. Wie oft lassen wir unsere Träume los, weil Stimmen aus der Familie uns ihre Ängste übertragen? Wie oft hängen wir am rollenden Rubel und übersehen dabei ganz unseren eigenen Glanz? Nachdem ich den Entschluss gefasst hatte, das Studium an der FU zu beenden, wollte ich etwas finden, das mir mehr Freude macht. An Ideen mangelte es nicht, doch immer fehlte das kribbelnde Etwas, das sagt: Ja, das könnte richtig cool werden. Mit Leuten über das Thema zu sprechen, half mir, Anregungen zu sammeln und dann die eigene Inspiration wachzurütteln. Erstaunlicherweise öffnete sich durch die Gespräche über den Fachwechsel eine Barriere, die zuvor nicht angesprochen wurde: Auch andere Studenten erzählten von ihrer Suche nach einer erfüllten Ausbildung und teilweise davon, zu einer gewissen Zeit nicht den Mut gehabt zu haben, die Segel neu zu setzen. Es scheint, als wäre ein kleiner Lebenswandel nicht immer so einfach und besonders, wenn viele Stimmen vom Studienverlauf schwärmen und begeistert sind, trauen wir uns oft gar nicht, unsere Lust- und Leidenschaftslosigkeit anzusprechen. Ich kann nur empfehlen, ehrlich mit sich selbst zu sein! 
 
Sinnsuche ist selten geradlinig – oft stolpern wir über Zweifel, bevor wir Klarheit finden. Doch auch andersherum ist es möglich und wir finden in manchen Lebensinhalten ganz mühelos unseren Platz. Ganz gleich, in welcher Position wir uns gerade befinden, die Suche danach, was uns wirklich erfüllt, wird nie ganz aufhören. Und selbst, wenn wir meinen, uns selbst gefunden zu haben, so werden neue Reibungspunkte auf dem Weg warten, um uns wie einen Bernstein zu schleifen. Vielleicht geht es im Leben nicht um dauerhafte Flut oder Ebbe, sondern um das Finden der Mitte dazwischen - eine Harmonie mit dem, was ist. Ein Gleichgewicht. 
 
Und warum teile ich all das hier? Nun ja, weil ich gerne die Erfahrung weitergeben möchte, dass weder das Abitur noch das Studium den Durst nach einem sinnerfüllten Leben stillen können- das können nur wir selbst mit unseren Entscheidungen tun. Viel Spaß dabei! 
 
 
23.07.2025 | Erfahrungsbericht
Verfasst von: MME
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