Abschied aus Moabit
Letzte Abiturverleihung am Berlin-Kolleg

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Jvsk
Ein sonniger Julivormittag im Berliner Ortsteil Moabit. Auf dem Podium der Aula des Berlin-Kollegs in der Turmstraße werden feierlich die letzten Abiturzeugnisse überreicht. Es ist ein Moment der Freude – aber auch des Abschieds. Denn mit dem Schuljahresende 2024/25 endet nicht nur ein weiteres Semester am Berlin-Kolleg, sondern auch ein historisches Kapitel der Berliner Erwachsenenbildung. Zum letzten Mal wurde an diesem traditionsreichen Standort das Abitur verliehen. Ab dem kommenden Schuljahr wird der Unterricht im Rahmen einer strukturellen Neuausrichtung am Standort des Kolleg Schöneberg fortgeführt.
Die Fusion beider Kollegs ist eine bildungspolitische Reaktion auf einen längerfristigen Trend: Die rückläufigen Studierendenzahlen im Zweiten Bildungsweg machen es zunehmend schwer, kleine Kollegstandorte wirtschaftlich und organisatorisch aufrechtzuerhalten. Die Berliner Senatsbildungsverwaltung reagiert – wie viele Länder bundesweit – mit der Zusammenlegung von Ressourcen und Angeboten. Während das Kolleg Schöneberg künftig die zentrale Einrichtung für den Zweiten Bildungsweg in Vollzeitform in Berlin bleibt, wird das Gebäude des Berlin-Kollegs in der Turmstraße einem Gymnasium für den Ersten Bildungsweg übergeben. Aus einer Schule der zweiten Chancen wird ein Ort der jugendlichen Bildungsbiografie.
Was formal wie ein administrativer Akt erscheint, hat in Wahrheit weitreichende gesellschaftliche Implikationen. Das Berlin-Kolleg war über Jahrzehnte hinweg eine Institution, die für soziale Durchlässigkeit, Bildungsaufstieg und lebenslange Lernmöglichkeiten stand. Viele Menschen, die auf alternativen Wegen ihren Schulabschluss nachholten, teils nach Jahrzehnten im Berufsleben, mit familiären Verpflichtungen oder Migrationshintergrund, fanden hier nicht nur Wissen, sondern auch Ermutigung und Anerkennung. Die Turmstraße war ein Ort der Selbstermächtigung, der sozialen Mobilität und nicht zuletzt auch ein Schutzraum vor gesellschaftlicher Ausgrenzung.
Dass ausgerechnet dieser Ort nun für den Ersten Bildungsweg reserviert wird, hat symbolische Kraft. Zwar ist der Bedarf an Schulplätzen für Jugendliche, insbesondere in den Innenstadtlagen, zweifelsohne hoch, doch geht mit der Umnutzung auch eine bildungspolitische Verschiebung einher: Der Zweite Bildungsweg scheint an Sichtbarkeit, struktureller Präsenz und politischer Wertschätzung zu verlieren.
Zwar bleiben in Berlin mit dem Victor-Klemperer-Kolleg in Marzahn und dem Charlotte-Wolff-Kolleg in Charlottenburg zwei weitere Einrichtungen des Zweiten Bildungswegs erhalten. Doch auch in Letzterem sind sinkende Anmeldezahlen, steigender Spardruck und Herausforderungen in der Lehrkräftegewinnung spürbar. Die klassische Vollzeitform, in der Erwachsene den Unterricht ganztags besuchen, gerät zunehmend unter Legitimationsdruck. Dabei ist der Bedarf an nachholbarer Bildung keineswegs verschwunden – er hat sich nur verändert.
Viele Bildungsforschende und Lehrkräfte beobachten mit Sorge, dass politische Entscheidungen vorrangig auf kurzfristige Effizienz und Haushaltsoptimierung abzielen, anstatt strukturell vorauszudenken. Denn die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der Gegenwart, etwa die Digitalisierung der Arbeitswelt, die steigende Nachfrage nach höherer Qualifikation oder die demografische Alterung, legen nahe, dass der Bedarf an Bildungsangeboten im Erwachsenenalter in Zukunft eher steigen als sinken wird. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die tiefgreifenden Folgen der Corona-Pandemie. In den Jahren der Isolation, Unsicherheit und existenziellen Umbrüche haben viele Menschen ihren Bildungsweg überdacht oder neu bewertet. Bildungsbiografien wurden unterbrochen, Arbeitsplätze gingen verloren, berufliche Perspektiven änderten sich. Zugleich zeigen aktuelle PISA-Erhebungen, dass viele Kinder und Jugendliche durch pandemiebedingte Ausfälle bis zu drei Schuljahre hinter dem erwarteten Leistungsstand zurückliegen. Diese Bildungslücken werden in den kommenden Jahren unweigerlich dazu führen, dass vermehrt junge Erwachsene auf den Zweiten Bildungsweg zurückgreifen müssen, um Schulabschlüsse nachzuholen oder zu verbessern. Gerade in einer solchen Phase wäre eine gezielte Stärkung, nicht der Rückbau, des Zweiten Bildungswegs bildungspolitisch geboten.
Die aktuelle Entwicklung steht jedoch im Widerspruch dazu. Nicht nur in Berlin, auch bundesweit wurden Kollegs geschlossen oder in anderen Schulformen aufgelöst. Abendgymnasien verschwinden, Vollzeitangebote werden ausgedünnt, und viele Einrichtungen kämpfen mit der Wahrnehmung, ein „Auslaufmodell“ zu sein. Dabei bedeutet die Abschaffung von Institutionen des Zweiten Bildungswegs nicht nur den Verlust eines Lernorts – sie bedeutet auch den Rückzug des Staates aus einem bildungspolitischen Versprechen: dass Bildung lebenslang möglich und prinzipiell für alle offen bleibt, unabhängig vom Lebensalter oder sozialen Hintergrund.
Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, wurde unter anderem das Alumni-Portal ins Leben gerufen – eine Plattform, die gezielt die Außenwahrnehmung und Sichtbarkeit des Zweiten Bildungswegs stärken will. Durch Erfahrungsberichte, Porträts, Bildungsangebote und überregionale Vernetzung soll das Portal zeigen, wie vielfältig, relevant und lebendig dieser Bildungsbereich nach wie vor ist. Damit diese Wirkung entfaltet werden kann, ist es umso wichtiger, dass alle teilnehmenden Schulen das Projekt aktiv unterstützen – insbesondere durch einen sichtbaren Backlink auf ihren Webseiten. Sichtbarkeit ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für politische Wirksamkeit und gesellschaftliche Anerkennung.
Für die letzten Absolvent:innen des Berlin-Kollegs bleibt der Abschied in doppelter Hinsicht bedeutsam. Sie haben sich, oftmals neben familiären oder beruflichen Belastungen, auf den Weg gemacht, das Abitur nachzuholen. Für sie markiert die Abschlussfeier nicht nur das Ende einer schulischen Etappe, sondern auch den persönlichen Triumph über Hindernisse und Selbstzweifel. Gleichzeitig nehmen sie Abschied von einem Ort, der nun nicht mehr sein wird, was er für viele war: ein Ort des Aufbruchs, der Neuanfänge, der intellektuellen und sozialen Entwicklung im Erwachsenenalter.
Das Kollegium verabschiedet sich nicht nur von einem Gebäude, sondern auch von einem pädagogischen Raum, in dem über Jahrzehnte hinweg eine besondere Lehrkultur gepflegt wurde – geprägt von Respekt, Heterogenität, Geduld und der Überzeugung, dass Lernen immer wieder möglich ist. Ob das Berlin Kolleg in Schöneberg diese Kultur bewahren kann, wird sich zeigen. Die Zusammenlegung bietet zweifellos Chancen: eine stärkere Konzentration von Ressourcen, größere Kursvielfalt, neue pädagogische Ansätze. Doch zugleich droht mit der Zentralisierung auch ein Verlust von Nähe, von Vielfalt der Standorte, von erreichbaren Bildungsorten in der Fläche.
Der Rückbau des Zweiten Bildungswegs ist keine bloße Strukturfrage, sondern Ausdruck eines bildungspolitischen Paradigmenwechsels. Bildung wird wieder zunehmend als frühes Kapital verstanden, das am besten jung erworben wird. Wer später beginnt oder Umwege geht, findet oft weniger Unterstützung. Doch in einer pluralistischen, dynamischen Gesellschaft darf Bildung kein linearer Prozess sein. Sie muss anschlussfähig bleiben – auch für die, die spät einsteigen, neu beginnen oder einen Kurswechsel wagen.
Die Entscheidung, das Berlin-Kolleg in der Turmstraße zu schließen, mag im Moment der Zahlen logisch erscheinen. Doch ihre langfristige Wirkung wird sich erst noch zeigen. Vielleicht wird sie eines Tages als Maßnahme im Schatten eines Wendepunkts gesehen – als ein Moment, in dem das System die Zeichen der Zeit nicht erkannte. Oder sie wird Ausgangspunkt einer neuen Debatte: über die Zukunft des Zweiten Bildungswegs, über Bildungsgerechtigkeit im Erwachsenenalter und über die Frage, welchen Platz Menschen in diesem Land haben, die sich neu erfinden wollen.
Denn genau dafür stand das Berlin-Kolleg in der Turmstraße – bis zum letzten Schultag.
23.07.2025 | Blog
Verfasst von: BWA